Bist Du reif für's Radfahren?
Bettina Fiegl von der Wiener Zeitung hat sich kürzlich in Portland umgesehen und ist erstaunt, wie höflich die Menschen dort auf der Straße miteinander umgehen! Radfahrer warnen Fußgänger nicht durch penetrantes klingeln, sondern äußerst höflich indem sie kurz rufen "To your left", sodass Fußgänger wissen, wohin sie ausweichen können. Taxifahrer beschweren sich höchstens darüber, dass sie keine Haltevorrichtungen an ihren Fahrzeugen haben und auch Fußgänger entschuldigen sich eher als dass sie Radfahrer anschreien. In Kopenhagen das gleiche Bild, auch dort fühlt man sich als Radfahrer schnell sicher, Autofahrer bleiben eher stehen, als dass sie andere unnötig gefährden und Radfahrer halten zueinander respektvoll Abstand, wenn es geht.
In Kopenhagen befragte Bürger sagen, es sei Teil ihrer Mentalität radzufahren. Jedes Kind wächst ganz natürlich mit dem Fahrrad auf. Die Menschen lieben das Rad sogar als Teil ihrer kulturellen Identität. Insofern kann man sicherlich von einer gewissen Mentalität sprechen, die Radfahren fördert oder die Entwicklung einer fahrradfreundlichen Kultur mitbestimmt. Aber woher kommt diese Mentalität?
Historisch betrachtet ist das Rad nur geringfügig älter als das Auto. Straßen werden aber seit über hundert Jahren ganz überwiegend für das Auto erdacht und gebaut. Gesetze wurden auch in Dänemark und vor allem in den USA sehr autofreundlich gestaltet und Radfahrer werden seither mit den Fußgängern an den Straßenrand gedrängt. Was hat also dazu geführt, dass Radfahren TROTZDEM heute in mehr und mehr Städten diesen hohen Stellenwert genießt und auch ihre Bürger sich voll und ganz damit identifizieren?
Die Antwort ist: Politischer Pragmatismus, nicht selten gepaart mit linksliberalem Idealismus führte ab den siebziger Jahren in vielen Städten vor allem in den Niederlanden zu wesentlich besseren Bedingungen für Radfahrer. In Groningen zum Beispiel fragt heute niemand mehr, warum die Innenstadt komplett autofrei ist. Geschäftsleute würden sich höchstens beschweren, wenn Ihnen der Platz vor dem Geschäft für Parkplätze weggenommen würde. Auch in Sevilla war es eine mutige linksliberale neue Politikergeneration, die dem Radverkehr den Vorrang gab und heute Sevilla deshalb die Fahrradhauptstadt Südspaniens - mit allerdings aus nordeuropäischer Sicht mageren 10% Radfahreranteil - ist.
Umwelt- und Platzprobleme, aber vor allem Verkehrsprobleme sind die tatsächlichen Triebfedern fahrradfreundlicher Stadtplanung. Überall dort wo Radfahren massiv gefördert wird, stehen oder standen die Kommunen am Rande des Verkehrskollaps. Sei es in Kopenhagen der Neunziger Jahre, sei es in Amsterdam der Siebziger, oder sei es Paris und London, wo man heute nun ebenfalls die autogerechte Stadtplanung massiv bereut und mit Milliardenaufwand umzukehren versucht.
Andersherum formuliert: Dort wo das Rad tatsächlich Tradition hat, weil es hier erfunden und weiterentwickelt wurde und von wo aus technische Innovationen in alle Welt hinausstrahlen, dort, wo es also nahe liegt, dass man eine gewisse Mentalität aus Tradition, Verbundenheit oder Regionalstolz heraus entwickelt, dort spielt das Rad nach wie vor nur die zweite Geige.
In Karlsruhe zum Beispiel, der Vaterstadt des Erfinders des Fahrrads, möchte man zwar Fahrradhauptstadt Süddeutschlands werden, scheitert aber gerade an der Quadratur des Kreises. Man möchte wie überall in Deutschland den Radverkehr auf der einen Seite fördern, aber auf der anderen Seite Autofahrern nichts "wegnehmen" - geflissentlich ignorierend, dass man genau das über Jahrzehnte hinweg mit Radfahrern und Fußgängern gemacht hat, indem man ihnen den Raum genommen hat, den sie heute für sich beanspruchen müssen, um wieder sicher voranzukommen.
Zurück nach Portland: Auch dort kam das Rad nicht von sich aus als Teil kultureller Identität wieder in den Fokus der Öffentlichkeit zurück, sondern es war vor allem bürgerliches Engagement und die daraus folgende politische Einsicht, dass Verkehrsprobleme nicht mit mehr und noch breiteren Straßen gelöst werden können. Heute betrachtet es fast jeder Einwohner Portlands als Teil seiner Kultur radzufahren oder Radfahrer zu respektieren - und das nach gerade mal dreißig Jahren politischer Reformen zugunsten des Fahrrads.
Fazit: Nicht die Mentalität ist also ausschlaggebend für eine positive Entwicklung des Radverkehrs, sondern es sind vor allem politischen bzw. praktische Sachzwänge und Realitäten, die letztendlich dazu führen, dass nach einer gewissen Zeit die Menschen sich mit ihrer Art der Fortbewegung besonders identifizieren. Dass diese (Klima-)politische Wende endlich weltweit gelingt und von Paris aus ein Signal für umweltfreundliche Fortbewegung mit Rad, Bahn und Bus gesendet wird, das wünscht Euch allen für das neue Jahr Matthias aus Nürnberg
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