(Mehr) Interdisziplinäre Lehre für die Mobilitätswende - ein Kurzplädoyer von Philine Gaffron

Hochschulen haben eine gesellschaftliche Verantwortung, auch wenn es um Klimaschutz geht. Die Verkehrsplanerin Dr. Philine Gaffron beschreibt eindrücklich, wie sich Hochschullehre verändern muss, damit die Verkehrswende gelingt. Denn ohne eine gute Lehre gibt es auch keinen Nachwuchs, der sich der Zusammenhänge von Mobilität und Gesellschaft sowie Klima bewusst ist.

Vorbemerkung: Selbst, wenn mittlerweile vermehrt von Mobilitätsforschung, Mobilitätssystemen und der Mobilitätswende die Rede ist, so sprechen wir doch immer noch eher von Verkehrsplanung oder Verkehrspolitik. Hieran zeigt sich bereits ein Unterschied zwischen konzeptioneller Interdisziplinarität und sektoralen Handlungsansätzen. Die Begriffe finden dennoch der Einfachheit halber im Weiteren entsprechend ihrer Gebräuchlichkeit Verwendung.

»Sobald wir etwas für sich genommen betrachten wollen, stellen wir fest, dass es mit allem anderen im Universum verbunden ist. « Diese Aussage von John Muir, dem Naturphilosophen, der als Vater der Nationalparks in Nordamerika gilt (1838, Schottland bis 1914, USA), bezog sich ursprünglich auf Muirs Überlegungen zur (damals noch nicht) klassischen Ökologie. Sie lässt sich aber im Prinzip auf fast alle Bereiche gesellschaftlichen Handelns übertragen. Auch in der Mobilitätsforschung und -lehre befinden wir uns noch in einem Stadium, in dem wir die Betrachtung der Zusammenhänge im Muirschen Sinne erweitern sollten, um der gesellschaftlichen Vernetzung und Zukunftsrelevanz des Themas gerecht zu werden.

Denn auch in diesem Jahrtausend wurden in Deutschland noch Bundesverkehrswegepläne erstellt, die sich stärker an der bestehenden Nachfrage und deren prognostiziertem Wachstum orientierten, als an Klimaschutzzielen und volkswirtschaftlicher Effizienz. Und es wurden Neubaugebiete geplant, deren Straßenräume sich (erst) nach der Fertigstellung für die Busflotte der zuständigen Verkehrsunternehmen als nicht befahrbar erwiesen. Vergleichbare Extreme einer mangelnden Abstimmung von Stadt- und Verkehrsplanung auf dieser Ebene dürften zwar zunehmend seltener werden, eben auch weil die Notwendigkeit einer Integration der Handlungsfelder Raum, Stadt und Verkehr in der Lehre immer selbstverständlicher mitgedacht und vermittelt wird.

Aber selbst, wenn die Betonung der Notwendigkeit einer Mobilitätswende für wirksamen Klimaschutz von den meisten Studierenden in meinen Veranstaltungen heutzutage mit Kopfnicken quittiert wird (ab und an auch mit einem für Gemeinplätze reservierten Augenrollen), ist die Mehrzahl dann dennoch erstaunt zu erfahren, dass der Verkehrssektor in Deutschland weiterhin der einzige ist, dessen CO2-Emissionen seit den 1990er Jahren nicht zurückgegangen sind. Die entsprechenden Zusammenhänge sowie Lösungsansätze müssen somit weiterhin differenziert erläutert und diskutiert werden.
Gleiches gilt für den Themenbereich Verkehr und Wirtschaft. Güterverkehr bewegt sich größtenteils in den gleichen Verkehrssystemen wie Personenverkehr. Und auch der Personenwirtschaftsverkehr hat einen hohen Anteil am (urbanen) Verkehrsgeschehen. Privatwirtschaftliche Entwicklungen und logistische Entscheidungen sind somit für die Mobilitätswende hoch relevant. Daher bedarf es des entsprechenden Wissens und Bewusstseins bei den jeweiligen Akteur*innen, sowohl in der Logistik als auch in der Verkehrsplanung.

Auch die Automobilindustrie kann bei entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Zielsetzungen nicht als rahmengebendes Element für die Gestaltung des motorisierten Individualverkehrs verstanden werden, sondern ist als zu gestaltende Variable zu begreifen, für die entsprechende Konzepte benötigt werden. Des Weiteren sollte die Lehre die Relevanz der Mobilitätssysteme für soziale Gerechtigkeit, für gesellschaftliche und individuelle Gesundheit sowie für Artenvielfalt und Bodenschutz (im Rahmen der Flächeneffizienz) vermitteln. Selbst Verhaltenspsychologie, Kognitionsforschung und Neurowissenschaften sind für zielführende Strategien in Bezug auf Mobilität und die Mobilitätswende wichtig. Sie können uns zeigen, wie wir auch für ältere Menschen möglichst lange eine sichere Mobilität gewährleisten. Und sie können uns helfen, individuelle Mobilitätsentscheidungen sowie die Verkehrspolitik in ihrer Vielfalt und ihrem Beharrungsvermögen besser zu verstehen. Damit können wir sie wirksamer beeinflussen und gestalten.

Wenn wir die Dringlichkeit einer sozial und ökologisch gerechten Mobilitätswende im Zeichen von Klimawandel und Ressourcenschutz ernst nehmen, haben wir allerdings nicht mehr die Zeit, uns noch zehn oder auch nur fünf Jahre mit der konzeptionellen Optimierung der Lehre zu beschäftigen, um dann in acht bis neun Jahren entsprechend befähigte Absolvent*innen in die berufliche Praxis verabschieden zu können. Außerdem kann kein einzelner Studiengang alle genannten Fachgebiete in gleicher und ausreichender Tiefe abdecken. Glücklicherweise hat die notwendige thematische Integration in der Lehre vielerorts bereits große Fortschritte erzielt – oder hat die entsprechenden Entwicklungen sogar maßgeblich mitbestimmt. Dennoch ist es weiterhin und immer von Neuem an uns – den Lehrenden –, Kriterien und Handlungsoptionen für eine zukunftsfähige Mobilität im Rahmen bestehender Studienangebote und Kursstrukturen zu vermitteln.

Dafür bieten sich die Aufnahme relevanter Inhalte in entsprechende Lehrveranstaltungen, Gastvorträge und Exkursionen ebenso an wie interdisziplinäre Studienprojekte und hochschulübergreifende Angebote in Form von Summer Schools oder ähnlich des Mobilitätslabors Hamburg – einer Initiative der dortigen Behörde für Umwelt und Energie und Hamburger Hochschulen zum Thema nachhaltige Mobilität der Zukunft. Natürlich ist es richtig und sinnvoll, dass sich das gesellschaftlich wirksame Handeln von Hochschulabsolvent*innen auf Basis spezifischer Fachexpertise auf einen ebenfalls konkreten Wirkungsbereich im Themenkomplex Mobilität konzentriert. Genauso wichtig, ja eigentlich unumgänglich, ist es aber auch, dass die Lehre alle dazu befähigt und anregt, sich der größeren Zusammenhänge bewusst zu sein und die Relevanz des eigenen Betätigungsfeldes einzuordnen sowie mit Akteur*innen in anderen zentralen Wirkungsbereichen verständlich und verständig kommunizieren zu können.

Das gilt nicht nur für den Bereich Verkehr und Mobilität. Unabhängig von der Fachdisziplin sollte ein Hochschulstudium dazu beitragen, dass seine Absolvent*innen sich an gesellschaftspolitischen Diskursen konstruktiv kritisch beteiligen und dass sie möglichst evidenzbasiert entscheiden und handeln. Wir werden uns im Detail nicht immer einig sein, welche Elemente des Mobilitätssystems in Zukunft genau welche Rolle spielen können oder sollten – an dieser Stelle sollen Elektromobilität und autonomes Fahren als Stichworte genügen. Aber die Richtung dürfte klar sein. Wenn unsere Absolvent*innen auf dieser Basis analysieren, diskutieren, planen und handeln, können sie dazu beitragen, die zahlreichen Bestandteile von Verkehrssystemen und Mobilität zu einem immer flexibleren und somit widerstandsfähigem Netz zu verknüpfen, das (frei nach der Brundtland-Definition) die Mobilitätsbedürfnisse heutiger Generationen befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

 

Dieses Plädoyer wurde im Rahmen unserer Good-Pactice Broschüre »Nachhaltige Mobilität an Hochschulen« veröffentlicht. Ihr könnt sie euch jetzt kostenlos herunterladen und spannende Mobilitätsprojekte an Hochschulen kennenlernen.

Dr. Philine Gaffron forscht und lehrt am Institut für Verkehrsplanung und Logistik der TU Hamburg. Nach Abschlüssen in Ökologie und Landschaftsarchitektur verfasste sie eine Doktorarbeit im Bereich Verkehrsplanung. 2012 und 2013 forschte sie als Stipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der UC Davis in Kalifornien zum Thema Verkehr und Umweltgerechtigkeit und ist zurzeit Mitglied der Enquete-Kommission zur Klimaschutzstrategie des Landes Bremen.