Kindheit in Bewegung – Ist das Realität oder schon eine Utopie?

Einmal nach Stuttgart und zurück für einen zweistündigen Workshop? Klingt aufwändig, bei einer sechsstündigen Bahnfahrt von Berlin. Trotzdem sind meine Kollegin und ich letzte Woche losgefahren, um beim Fachtag „Bildung für eine bewegte Welt – Kindheit und Mobilität“ der Katholischen Fachschule für Sozialpädagogik die nachhaltige Mobilität im Kindergarten zu thematisieren. Die Förderung dieser scheint immer notwendiger zu werden. Doch welche Auswirkungen hat das viele Fahren mit dem Elterntaxi auf Kinder? Sind die Straßen wirklich so unsicher geworden, dass vollständige Beobachtung notwendig ist? Und wo ist denn das Straßenspiel geblieben?

 

Kinder in Deutschland sind immer weniger in Bewegung. Auch wenn Sport- und Fitnessvereine oder der Sportunterricht besucht werden - die insgesamte Bewegungszeit der Kinder sinkt Jahr für Jahr. Das resultiert unter anderem aus fehlenden Freiräumen zum Spielen, der geringen individuellen Mobilität sowie der fehlenden Förderung durch die Eltern. Beispielsweise werden viele Kinder mit dem Elterntaxi in Kindergärten oder Schulen gebracht und verlieren dadurch nicht nur räumliche Bezüge, sondern auch Bewegungszeit. Bevor das Auto vor vielen Jahren die Straßen besetzt hat, gab es genügend Platz für ausgedehntes Toben. Diese und viele weitere Tatsachen präsentierte Dr. Peter Höfflin von der Hochschule Ludwigsburg in seinem Vortrag vor unserem Workshop. Zudem stellte er seine Studie zu Aktionsräumen in Städten vor, worin bewiesen wurde, wie höhere Qualität von Aktionsräumen die Spielzeit von Kindern maßgeblich beeinflusst. Darüber hinaus dürfen Kinder in Quartieren mit hoher Aktionsraumqualität vermehrt ohne Begleitung draußen unterwegs sein. Ist das nicht der Traum vieler Kinder?

Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, denke ich direkt an die vielen Stunden im Wald. Es gab eine Zeit, da kannte ich viele Kletterbäume im Umkreis meines Zuhauses und wusste den schnellsten Weg hinauf. Ich erinnere mich, wie ich mit meinen Freunden durch die Umgebung gestreift bin und einfach nur getobt habe. Elternfreie Zone galt dabei häufig. Und wenn etwas passiert ist, waren wir natürlich alle unschuldig. Zur Schule bin ich gelaufen oder mit dem Bus gefahren. Das Elterntaxi gab es nur manchmal zur Fahrt zum Sportverein, beim Arztbesuch oder zum Einkaufen. Das lag bestimmt nicht nur an meinen Eltern, sondern auch an den vielfältigen Möglichkeiten vor Ort.

 

Aber nicht nur die Reflektion meiner eigenen Kindheit, sondern auch weitere angesprochenen Themen stimmten mich nachdenklich. Insbesondere eine Abbildung zum Streifbereich von Kindern, also der Bereich in dem diese selbständig agieren. Während dieser vor 100 Jahren noch mehrere Hektar groß war, gibt es heute vermehrt Kinder, die nicht weiter als bis zur Straßenecke ohne Aufsicht gehen dürfen. Verständlich ist das irgendwie schon, beim bewusst werden der Gefahren auf unseren Straßen. Aber wird diesen Kindern dann nicht Freiheit entzogen und wenig Selbständigkeit gelehrt? Fakt ist jedenfalls: Nach Statistiken ist Deutschland so sicher wie selten zuvor und auch weltweit zählt dieses Land zu einem der sichersten (Zahl der Verkehrstoten deutlich gesunken & 2017 war die niedrigste Zahl an Straftaten seit 1992). Dennoch wird der Drang nach Kontrolle größer, was im Besonderen Kinder zu spüren bekommen. Mit unerwünschten Folgen, denn zu Fuß gehen oder Rad fahren, frühe Selbstständigkeit und Freiraum zum Spielen sind bedeutend für die Kindesentwicklung. Nun habe ich selbst noch keine Kinder und will auch keinen Eltern irgendwelche Vorwürfe machen, aber die Bedeutung der angesprochenen Punkte wird mir immer bewusster.

Auch durch den anschließenden Workshop bei der Stuttgarter Fachtagung, bei dem wir mit angehenden sowie praktizierenden Erzieher*innen das Thema ausführlicher behandelt haben und ein spielerisches Heranführen an nachhaltige Mobilität ausprobiert haben. Das Engagement und Interesse der Gruppe war beeindruckend. Der Bedarf an Ideen, wie das Thema an der eigenen Einrichtung aktueller wird, war groß. Allen Teilnehmenden ist die Bedeutung und der Mangel an Bewegung von Kindern bewusst, fraglich aber die passende Adressierung der Eltern dazu. Der Austausch darüber verdeutlichte erneut, wie Notwendig das Fördern des Zu Fuß Gehens bei Kindern ist und zwar nicht nur aus ökologischen Gesichtspunkten. Nicht zuletzt bin ich häufig froh, dass der VCD die Aktionstage „Zu Fuß zur Schule und zum Kindergarten“ anbietet und das Thema dadurch adressiert.

 

Für mich bleibt die Thematik sehr komplex und scheint bedingt durch vielfältige Einflüsse. Wiederum bewusster ist mir die notwendige Umgestaltung des Lebensraum Straße, mit Möglichkeiten der Nutzung abseits des Autos, geworden. Durch die starke Fokussierung dessen im öffentlichen Raum wurde vielen anderen (insbesondere Kindern) Platz genommen, der nur schwer wieder zurückeroberbar scheint. Dass dies möglich ist, zeigen jedoch die vielen positiven Beispiele (Erst sind alle dagegen – und dann dafür oder Pariser Seine-Ufer), nun müssen nur mehr Menschen davon ebenso überzeugt werden. Denn die aktuelle Verkehrssituation schadet nicht nur unserer Umwelt, sondern wirkt sich weitaus gravierender auf unsere Gesellschaft aus.

 

Das Bild des Malers Pieter Bruegel zeigt mehr als 90 verschiedene Kinderspiele, die im ganzen öffentlichen Raum ausgetragen werden. Es wird auf das Jahr 1560 datiert und ist aktuell im Kunsthistorischen Museum Wien ausgestellt. Weitere Informationen sind hier zu finden.