Weil die alte Strecke zwischen Stuttgart und Ulm noch aus den ganz frühen Tagen der Eisenbahn stammt und am Albaufstieg, der berüchtigten „Geislinger Steige“ nur Geschwindigkeiten von um die 70 km/h gefahren werden können, träumten die Bahn und ihre Kunden schon lange von einer neuen Strecke.
Die Diskussion, wie und wo diese neue Strecke verlaufen könnte, ob es nicht auch reichen würde die alte zu ertüchtigen, erhitze über viele Jahre die Gemüter. Konzepte, Gutachten und Gegengutachten jagten einander, kurz: der Streit über die Neubaustrecke wurde nicht weniger hingebungsvoll geführt, als der um die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofes.
Am Ende konnte zwar so manches Schreckensszenario, wie beispielsweise, dass diese neue Strecke an Ulm vorbei und über die Ostalb Richtung München führen könnte, abgewendet werden, aber wie es bei Projekten dieser Größenordnung so ist, blieben den Kritikern bis heute noch immer genügend Themenfelder, um sich auszutoben. Darunter auch die besagte „Wendlinger Kurve“.
Nichtsdestotrotz hat der Bau der weitgehen unterirdisch verlaufenden Neubaustrecke, dessen Gesamtkosten offiziell auf 3,26 Milliarden Euro geschätzt werden, 2010 begonnen und macht beachtliche Fortschritte, sodass die fahrplanmäßige Inbetriebnahme der neuen Strecke am 4. Dezember 2021 wohl eingehalten werden kann.
Damit hat die Neubaustrecke der Tieferlegung des Bahnhofes einiges voraus, denn mit dessen rechtzeitiger Fertigstellung und Inbetriebnahme rechnet unter Experten kaum noch jemand.
Aber was passiert eigentlich, wenn die Neubaustrecke vor dem Tiefbahnhof fertig werden sollte?
Hier kommen jetzt die Kurven rund um Wendlingen ins Spiel, die sogenannte „Wendlinger Kurve“ auf der einen Seite und die „Güterzuganbindung“ auf der anderen.
Die „kleine Wendlinger Kurve“ ist eine eingleisige und höhengleiche Kurve, durch die die Neubaustrecke mit der bestehenden Schienenstrecke zwischen Stuttgart und Tübingen, der Neckartalstrecke (Wendlingen - Plochingen – Esslingen – Stuttgart) verbunden werden soll. Während die Abfahrt der aus Stuttgart kommenden Züge von der Neubaustrecke herunter relativ unkompliziertes Rechtsabbiegen bedeutet, sollen die aus Tübingen kommende Züge auf die Neubaustrecke Richtung Stuttgart geführt werden, indem sie - bei geringem Tempo versteht sich - erst auf das Gleis nach Ulm und dann über eine Weiche weiter auf das Nachbargleis nach Stuttgart geführt werden. Damit queren sie die nach Ulm führende Spur der Neubaustrecke und blockieren sie für einige Minuten. Dadurch liegt die Kapazität der „kleinen Wendlinger Kurve“ bei stündlich nur zwei Zügen pro Richtung.
Dass das keine besonders leistungsfähige Einschleifung sein kann und schon bei geringen Verspätungen zu erheblichen Problemen führen kann, ist offensichtlich. Die Lösung wäre ein zweites Gleis, das mit einer nievauungleichen Schleife über die Neubaustrecke hinwegführt und dann direkt auf das Gleis Ulm–Stuttgart einmündet. Die sogenannte „große Wendlinger Kurve“.
An den Flächen dafür würde es nicht scheitern, der Regionalverband Stuttgart würde sie gerne bereitstellen, doch Bahn und Bund wollen an der Eingleisigkeit festhalten, um Kosten zu sparen. Das aber geht auf Kosten der Zukunftsfähigkeit, denn nur die „große Wendlinger Kurve“ lässt Spielraum für ein zukünftiges Mehr an Mobilität und Zügen an dieser Stelle.
Nicht weniger kompliziert verhält es sich mit der zweiten Kurve, die nur den klingenden Namen „Güterzuganbindung“ trägt, die aber ermöglichen könnte, dass auch Züge zwischen Ulm und Stuttgart von der Neubaustrecke auf die Neckartalstrecke abfahren können und umgekehrt, was die Inbetriebnahme der Neubaustrecke auch ohne den fertig gebauten Tiefbahnhof ermöglichen würde.
Wie der Name des Streckenabschnittes unschwer erkennen lässt, ist er bisher nur für Güterzüge gedacht und jeder Überlegung hier auch Personenzüge verkehren zu lassen, stellen sich Bund und Bahn vehement entgegen.
Damit steht zu befürchten, dass eher die Fertigstellung der Neubaustrecke so lange verzögert wird, bis auch der Tiefbahnhof fertig ist, als dass sie rechtzeitig fertiggestellt und durch leistungsfähige Kurven bei Wendlingen an das bestehende Netz angeschlossen und somit in Betrieb genommen werden wird.
Nicht zuletzt an der „Wendlinger Kurve“ oder vielmehr den „Wendlinger Kurven“ liegt es also, ob die Neubaustrecke eine isolierte Verbindung zwischen Ulm und Stuttgart bleibt, oder zu einem leistungsstarken, flexiblen und zukunftsfähigen Mobilitätsknotenpunkt wird, der sich auf die gesamte Region vorteilhaft auswirkt.
So geriet das kleine Wendlingen, das vom Bahnprojekt Stuttgart-Ulm wohl vor allem ein mehr an Verkehrslärm erwarten kann, unversehens in den Mittelpunkt der berühmten Europäischen Eisenbahnmagistrale Paris–Budapest und ist – zumindest als Namensgeber umstrittenen Eisenbahnkurven - republikweit in aller Munde.
Kommentare (2)