Lena: Kristin, was genau ist eigentlich ein Parklet?
Kristin: Ein Parklet ist die Erweiterung des Bürgersteigs, welche anstelle eines Parkplatzes mehr Raum für Menschen schafft. Parklets sind die natürliche Weiterentwicklung des Parking Days, der seinen Ursprung in San Francisco hat. Ähnlich wie am Parking Day wird eine Parkplatzfläche in einen Aufenthaltsbereich transformiert, mit dem Unterschied, dass die Installation am Ende des Tages nicht abgebaut wird. Was als Kunstaktion angefangen hat, ist mittlerweile ein bewährtes Instrument von Stadtplaner*innen und urbanen Aktivist*innen.
Zum einen ermutigen Parklets zur nachhaltigen Mobilität. Mit der Reduktion innerstädtischer Parkplätze als integrierte Maßnahme eines übergeordneten Mobilitätskonzepts, das nachhaltige und sozial inklusive Alternativen zum Autoverkehr bietet, wird in Richtung einer Abkehr vom Autoverkehr und dessen schädlichen Auswirkungen auf das Stadtleben gearbeitet. Weiterhin werden stadtverträgliche Mobilitätsformen gefördert, indem Fußgänger*innen Orte zum Ausruhen und/oder Fahrradfahrer*innen Veloabstellplätze angeboten werden.
Zum anderen laden Parklets zum Verweilen und Kommunizieren ein, erhöhen dadurch die Lebensqualität in innerstädtischen Gebieten und fördern die Interaktion im Stadtraum und den nachbarschaftlichen Austausch.
Lena: Wie seid Ihr auf die Idee gekommen so ein Projekt zu starten?
Kristin: Basil Helfenstein kannte die Parklets als alternatives Werkzeug und erster Schritt für eine langfristige Straßenumgestaltung aus Sao Paulo, ich kannte Parking Day aus Sofia. Der Anlass für das erste guerillamäßig aufgebaute Parklet in Stuttgart im September 2015 war Basils Geburtstag. Da er damals im dicht besiedelten Stuttgarter Westen wohnte und keinen Balkon in seiner Wohnung hatte, baute er mit unserem Kommilitonen Philipp Wölki eine “Terrasse” vor der Haustür und brachte Freunde und Nachbar*innen zusammen. Ein paar Monate später setzten wir uns zusammen mit Hanka Griebenow und Sven Glatz - den zwei Organisatoren von Parking Day - und stellten die Idee dem Future City Lab - Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur (RNM) vor.
Lena: Die Parklets in Stuttgart sind gleichzeitig ein Realexperiment, was bedeutet das?
Kristin: Das Projekt “Parklets für Stuttgart” wurde im Rahmen des RNM realisiert - ein experimentelles Forschungslabor, das sich als Ziel gesetzt hat, gemeinsam mit Bürger*innen über eine ressourcenschonende und zukunftstragende Mobilitätskultur zu forschen. Das Reallabor dient als Forum zur Bildung neuer Allianzen für gemeinschaftliche Projekte zwischen Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Wirtschaft.
Bei einem “Markt der Ideen” hat das RNM Ende 2015 nach “Pionier*innen des Wandels” gesucht, die bereit waren, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren, Konzepte für eine neue Mobilitätskultur zu entwickeln und als Experimente im Stadtraum umzusetzen. Dort vernetzten wir uns mit weiteren Mitstreiter*innen und entwickelten einen Vorschlag, mehrere Parklets auf öffentlichen Stellplätzen in der Stuttgarter Innenstadt zu errichten. Nach einem mehrstufigen Prozess wurde das Parklet-Projekt zur Förderung und Umsetzungsbegleitung im Sommer 2016 ausgewählt. So wurden die Parklets nicht nur finanziell gefördert, es standen uns alle Türen der Stadtverwaltung offen und wir konnten ohne großen Hürden Genehmigungen für Sondernutzungen von Parkplätzen beantragen.
Neben der Umsetzung der Parklets war ein weiterer Bestandteil des Realexperiments die Forschung über ihre Wirkung auf dem Straßenraum, -leben und dem Mobilitätsverhalten. Um das Experimentsetting zu schärfen und ein wissenschaftliches Vorgehen sicherzustellen wurde durch interdisziplinäre Wissenschaftler*innen des Reallabors ein zweiteiliger Transformationsworkshop durchgeführt, an welchem die Ziele des Experimentes festgelegt wurden, sowie die Kriterien zur Evaluation dieser Ziele bestimmt und daraus die Methodik zur Datenerhebung abgeleitet.
Lena: Wie lief das dann alles ab?
Kristin: Im März 2016 startete das Realexperiment. Als Team Parklet kümmerten wir uns um die Standortwahl, suchten nach Patenschaften - Anwohner*innen, lokalen Geschäften und Vereinen, die die Parklets pflegten und Ansprechpersonen vor Ort waren.
Weiterhin wurde das Projekt als studentischer Entwurf an der Universität Stuttgart ausgeschrieben und damit konnten wir Architekturstudierende gewinnen, die die einzelnen Parklets entwarfen und bauten. Wir haben das Lehrprogramm für das Design Studio entwickelt, die Studierenden betreut, mit ihnen die Grundlage für die Forschung vorbereitet und letztendlich die Parklets auf ihre Wirkung beforscht.
So standen im Sommer 2016 für drei Monate insgesamt elf Parklets in den innerstädtischen Bezirke Stuttgarts. Wir organisierten sämtliche Veranstaltungen von Ausstellungen, über Stadtspaziergänge und Konzerte bis zu öffentlichen Diskussionen, um das Projekt sichtbar zu machen.
Lena: Stuttgart ist ja eine totale Autostadt, wie kamen Eure Parklets denn bei den Leuten an?
Kristin: Bei den Reaktionen sind wir wissenschaftlich herangegangen und haben sämtliche Meinungen auf unterschiedliche Kanäle gesammelt - aus den zahlreichen Medienberichten, der Feedback-Mailbox, den bei der Stadt eingereichten Gelben Karten, Facebook-Kommentaren, aus Interviews mit den Paten und Befragungen von Nutzerinnen und Passanten. Die zwei Sozialwissenschaftler*innen aus dem interdisziplinären Forschungsteam werteten das breite Spektrum an Meinungen aus, die mit unterschiedlicher Stärke und Intensität geäußert wurden. Die Ergebnisse davon haben wir im Parkletbericht zusammengefasst.
Das Meinungsspektrum variierte von “Das ist verfassungswidrig, was ihr hier macht! Auf einer Straße ist nichts anderes erlaubt als Fahren und Parken!” bis “Die Stadt gehört allen. Also auch mir und ich sitze auf diesem Parklet.” Hauptargumente dagegen waren die illegitime Verdrängung des Autos und die negativen Auswirkungen der Parklets auf die Nachbar*innen. Die positiven Meinungsbilder bezogen sich auf die gewonnene Aufenthaltsqualität und die Rolle der Parklets als sozialer Treffpunkt, sowie auf den Wunsch für eine menschengerechte Stadtgestaltung und die notwendige Reduktion des Autoverkehrs. Dazu kamen die vielen neutralen bzw. ambivalenten Äußerungen, die die Hauptidee lobten, jedoch die Umsetzung kritisierten.
Die zahlreichen und unterschiedlichen Reaktionen zeigen zum einen, dass öffentlicher Raum ein Verhandlungsraum ist, auf dem unterschiedliche Bedürfnisse einer heterogenen Gesellschaft projiziert werden. Die Art und Weise wie wir mit unseren Straßenräumen und deren Nutzung / Aneignung umgehen sagt auch etwas über unsere Gesellschaft aus. Zum anderen wird deutig, dass ein großer Diskussionsbedarf über die Stuttgarter Mobilitätskultur und die zukünftige Gestaltung unserer Straßen besteht.
Lena: Wenn Du an Stuttgart im Jahr 2050 denkst, wie wird die Stadt aussehen und wie werden die Menschen unterwegs sein?
Kristin: Um auch in Zukunft zusammen leben zu können brauchen wir einen dezidierten und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, sowie einen sozial inklusiven und demokratisch gestalteten Stadtraum. Um dies zu erreichen, müssen wir einiges verändern - sowohl die Art und Weise wie wir uns im städtischen Raum bewegen, als auch wie wir unsere Straßen gestalten.
Die negativen Auswirkungen des Autoverkehrsaufkommens auf unsere Gesundheit, Stadtraum und das soziale Zusammenleben deuten auf eine notwendige Abkehr vom automobilen Individualverkehr hin zu einem multimodalen, gut ausgebauten öffentlichen Mobilitätsnetz, das ein Mehr an Mobilität bei einer gleichzeitigen Reduktion des Verkehrs erreicht. Das Potential der zur Zeit vom fließenden und ruhenden Autoverkehr beanspruchten Flächen könnte dann genutzt werden um lebenswerte Stadträume zu kreieren.
Für Stuttgart im Jahr 2050 stelle ich mir kinder-, fußgänger- und fahrradfreundliche Straßenräume vor, die alle Verkehrsteilnehmer*innen im Stadtraum integrieren, zum Verweilen und Kommunizieren einladen und die städtische Lebensqualität erhöhen. Denn Straßen sind unsere Lebensräume, wo wir uns nicht nur bewegen, sondern auch andere Menschen begegnen und uns austauschen.
Dabei ist es auch wichtig wie wir dahin kommen. Als angehende Architektin und Stadtplanerin mit einem kritischen Blick auf gängige Stadtentwicklungsprozesse vermeide ich in fertigen Zukunftsvisionen zu denken. Wir brauchen vielmehr ergebnisoffene Strategien, die alle betroffenen Akteur*innen in sozialräumlichen Transformationsprozessen integrieren.
Lena: Vielen lieben Dank für das Gespräch